Wer sich verändern möchte, braucht ein Problem
Probleme sind Aufgaben, die uns das Leben stellt. Und das Leben stellt uns immer wieder vor die gleichen Aufgaben, konfrontiert uns mit den unverarbeiteten Emotionen der Vergangenheit und fordert von uns ihre Bewältigung. Haben wir eine dieser Lebensaufgaben gelöst, kommen wir voran, fühlen uns sicherer, stärker, gelassener, können mit schwierigen Situationen besser umgehen und das Leben mehr genießen. Wir kommen der Freiheit ein Stück näher, wenn wir uns von der Fremdbestimmung durch alte Wunden lösen.
Versuchen wir die Schmerzen zu umgehen, treten wir auf der Stelle und geraten immer wieder in die gleiche Situation. Wir haben solange die gleiche Art von Beziehung, die gleiche Jobsituation, die gleiche Art von Freundschaften, Krankheiten, Süchten, bis wir die Aufgabe, die uns das Leben vorsetzt, wirklich angehen. Wir werden immer wieder und weiter darauf hingewiesen, wenn etwas nicht „gesund“, nicht gereift ist, wenn wir in Verhältnissen leben, in denen wir uns nicht entfalten können, die lieblos und rücksichtslos sind, in denen andere auf unsere Kosten ihren Interessen nachgehen.
Das Leben legt uns Stolpersteine in den Weg, die anfangs klein sind und wenn wir sie ignorieren, immer größer werden: Wir stehen immer wieder vor den selben Problemen, wenn wir uns weigern falsche Verhaltensmuster, falsche Regeln zu erkennen, umzudenken, bewusst umzulernen und neue Orientierung zu suchen.
Nur wer sich mit Schwierigkeiten auseinander setzt, sie nicht verdrängt, nicht vor ihnen flieht oder sie anderen zuschiebt, bekommt etwas „geschenkt“. Wenn wir darauf warten, dass sich etwas von alleine löst, verhalten wir uns wie Kinder, die ihr Leben nicht selbst bestimmen können.
Wir suchen uns Ziele, die wir niemals verwirklichen können. Wir träumen von einem großen Talent, von großer Schönheit oder Jugend und da sie oft mit keinem Mittel der Welt zu erreichen sind, bleibt das System „Wenn-ich-das-hätte-würde alles-gut“ stabil. So können wir weiterhin glauben, die Probleme unseres Lebens würden sich mit dem Besitz dieser Dinge automatisch auflösen.
Unser Unterbewusstsein kennt keine Zeit, d.h. die Sorgen, Nöte und Sehnsüchte unserer Kindertage sind dort zeitlos archiviert, die Ängste und Seelenschmerzen sind so frisch, als wären sie eben erst passiert. Auch wenn wir heute lächeln über unsere Kinderängste und Kinderwünsche: Unsere Psyche betreibt viel Aufwand, damit wir sie in ihrer ursprünglichen Heftigkeit nicht wieder spüren müssen. Sie kreiert Verhaltensweisen und Welterklärungen, die unsere alten unverarbeiteten Ängste und die Wut nicht an die Oberfläche unseres aktuellen Lebens kommen lassen.
Die Psyche will heilen – aber bitte ohne Schmerzen! Leider geht das nicht.
Darüber hinaus wird die ganze Ausrichtung unseres bisherigen Lebens durch die Einsicht in unsere Prägungen in Frage gestellt. Denn all unsere Ziele und Glaubensgrundsätze sind ja überschattet von den Defiziten und falschen Werten unserer Erziehung. Die Notwendigkeit der Trauer um die verlorene Zeit, die vergeudete Energie, die verpassten Gelegenheiten, ist ein großer Widerstand gegen die Wahrheit. Doch es braucht immer eine Zeit der Instabilität, um wirklich etwas zu ändern. Und daher kommen wir um diese irritierende, schmerzhafte Infragestellung nicht herum auf unserem Weg zur Freiheit.
Häufig gestehen wir uns erst ein, das wir nicht glücklich sind, uns leer und gejagt fühlen, wenn wir richtig zusammen brechen, unser Leben kollabiert und wir uns als totale Versager fühlen. Erst dann sind wir bereit dem Eingeständnis auch unbequeme Konsequenzen folgen zu lassen und wirklich etwas grundsätzlich zu ändern. Oft braucht es schockartige, existentiell bedrohliche Erlebnisse, eine schwere Krankheit, eine plötzlich gescheiterte Beziehung oder eine Kündigung im Job, um uns mit dem Verdrängten, mit dem Ursprung unserer Erfahrungsmuster wieder in Berührung bringen. Dann begreifen wir langsam, dass wir selbst etwas tun müssen, dass wir in etwas fest stecken, dass sich nicht mit dem nächsten Partner oder Job oder einem ausgiebigen Einkaufsbummel beheben lässt. Eine solche tiefgreifende Veränderung bereitet Mühe und Schmerzen, Unsicherheit und Angst.
Sie bringt unser ganzes Leben durcheinander und deshalb haben wir auch so lange wie möglich versucht, einen anderen, weniger schwierigen Weg zu finden. Unser Selbstwertgefühl wird durch die Einsicht, das etwas nicht stimmt mit unserem Leben, mit uns selbst, noch weiter angegriffen.
Glauben wir sehnsüchtig, dass unser Glück sofort eintritt, wenn wir die Insignien des Erfolges nur hätten, dann ist das ein erster Hinweis darauf, dass wir damit alte Kindersehnsüchte stillen wollen. Eine wirklich glückliche Kindheit (und nicht eine, die wir uns als solche zurechtzimmern), mit genügend Liebe und Wertschätzung, lässt diese übermäßige, neurotische Sehnsucht nicht aufkommen.
Natürlich strebt auch ein Mensch mit einer gesunden Kindheit nach Anerkennung und Liebe, aber er hat nicht diese ihn treibende, „reißende“ Sehnsucht, die ihn abhängig macht, unfrei und fremdbestimmt, die ihn an seine Träume fesselt oder ihn immer weiter rennen lässt in der Hoffnung irgendwann im „totalen Hype“ anzukommen. Die Übergänge sind (wie immer) fließend. Eine unreife Persönlichkeit fällt nicht völlig heraus aus den Prinzipien des normalen Verhaltens. Sie übersteigert sie nur. Der Traum vom totalen Glück ist nur eine Steigerung des Traums vom Glück.
Ein anderer Hinweis auf Altlasten in unserem Unterbewusstsein, die unser aktuelles Leben beeinträchtigen, sind emotionale „Ausraster“. Immer wiederkehrende Wutattacken, aber auch plötzliches unvermitteltes Weinen oder völlige Gefühlstaubheit stehen für starke Gefühle, die aus dem Unterbewusstsein heraufdrängen. Meist werden sie durch eine vergleichbare Situation, die an unsere Erfahrungen der Kindheit anknüpft, hervorgerufen oder verstärken sich im Laufe der Zeit, die diese belastende Situation anhält. Denn durch unsere Sehnsucht nach Wiedergutmachung drängt uns unser Unterbewusstsein ja immer wieder in die Wiederholung der Vergangenheit – bis wir sie endgültig bewältigen und uns von den alten Ängsten und Sehnsüchten befreien.
Wir können diese Ambivalenz auflösen, die in unserem Unterbewusstsein konservierten Kinderschmerzen, Kindersehnsüchte verarbeiten und dadurch freier und stärker werden und glücklicher. Dieser Wunsch muss nur größer sein als die Angst vor der Reinigung alter Wunden und Glaubensgrundsätze. Es erfordert Mut, diesen Weg zu gehen, aber er lohnt sich.
Eure Brigitte